Anil Mane lebt mit seiner Frau und vier kleinen Kindern in einer zehn Mal zehn Meter großen, rostigen Wellblechhütte ohne fließendes Wasser im Slum an der Dr. Choithram Gidwani Road im Herzen Mumbais (hieß früher Bombay). Mehr als die Hälfte der 14 Millionen Mumbaier lebt in solcher Armut. Auf der anderen Straßenseite von Anils Behausung, durch eine meterhohe Steinmauer fast wie im Mittelalter abgeschirmt, befinden sich die manikürten Fairways des Bombay Presidency Golf Clubs – einer von drei Golfplätzen in der Stadt. Eine vornehme Welt für sich mit Bridge-Abenden, einem Clubhaus im Kolonialstil, Monatsbechern und einem Snooker-Raum.
Die Superreichen und Bitterarmen
In Mumbai leben sie Tür an Tür. Das 300-Euro-die-Nacht-Hotel direkt neben den Baracken der Armen. Auf unserer Golfrunde sehen wir eine Gruppe barfüßiger, kleiner Mädchen, die uns mit großen, traurigen Augen von einer Müllkippe aus beobachten. Vor diesem Hintergrund zu spielen, ist ein komisches Gefühl.
In Dharavi, einer von Asiens größten Slums, lebt über eine Million Menschen auf knapp einem Quadratkilometer. Nicht weit entfernt liegt die 27-Zimmer-Villa von Indiens reichstem Mann, Mukesh Ambani. Zwei Milliarden Dollar soll das Anwesen mit 600 Angestellten, eigenem Kino, Tanzsaal und Helikopterlandeplatz wert sein. Doch es lebt keiner mehr darin. Nachdem die Familie 2010 einzog, wurde ein schlechtes Vaastu festgestellt – eine Art negatives hinduistisches Feng Shui.
Im Bombay Presidency GC spielen wir unsere Runde mit Anil, der uns seine Geschichte erzählt. Sein Vater war Caddie und schnell trat der kleine Anil in das Familiengeschäft mit ein. „Mit zwölf schlug ich meinen ersten Golfball“, sagt er. „Ein Spieler ließ mich einen Schlag mit dem 7er-Eisen machen. Ich traf und dachte: Das kann ich auch!“ Mit 14 verließ Anil die Schule, seitdem sichert Golf sein Einkommen. Vor zwei Jahren beschloss ein Clubmitglied, dessen Ambitionen auf einer regionalen Golftour zu sponsern. 2011 spielte er bei 15 Turnieren, landete einen zweiten Rang. Sein Gesamtpreisgeld: 182.236 Rupien, etwa 2.000 Euro. Mit Caddietrinkgeldern und Trainerstunden bessert er seine Einnahmen auf. Von einem ansässigen Titleist-Händler hat er einige Bälle, Handschuhe und Schuhe geschenkt bekommen.
„Es ist nicht immer ganz leicht, überhaupt spielen zu können“, sagt Anil. „Die Kosten für Startgebühr und Reisen liegen pro Turnier bei 20.000 Rupien.“ Etwa 300 Euro. Der jährliche Durchschnittsverdienst eines Inders liegt bei 760 Euro.
Mein großer Traum
Der Parklandplatz des Bombay Presidency ist nicht schwer. Streunende Hunde patroullieren an jedem Fairway. Anil hat den Platz voll im Griff. Elegant und voller Selbstvertrauen schreitet er von Loch zu Loch. Mit einer superschnellen Hüftdrehung katapultiert er seine Drives über die 270-Meter-Marke. Zwischendurch zeigt er seine Qualitäten als Trainer: „Du bist zu verkrampft“, sagt er mir, und schon spiele ich besser. Seine „Vom Caddie zum Pro“-Geschichte hat ihn zum lokalen Helden gemacht – im letzten Jahr war er der Hauptdarsteller im exzellenten ESPN-Kurzfilm „Mumbai Golf“ (zu sehen auf YouTube).
„Mein größter Traum ist es, auf der Asian Tour zu spielen und dann irgendwann ein Turnier zu gewinnen“, erzählt Anil, während wir bei einem indischen Fast-Food-Snack in der Halfwayhütte sitzen. Er hat für die ersten neun Löcher 36 Schläge benötigt – 1 über Par.
Nach der Runde nimmt Anil uns mit zu sich nach Hause, auf die andere Seite der Mauer. Seine Frau und die Kinder sind auch da. Der Fernseher läuft. Überall im Raum liegen Golf-Andenken. Stolz zeigt er uns seinen ersten Driver: einen verschlissenen Callaway ERC Fusion. Draußen an der Straße neben Hühnern, Hunden und absolutem Verkehrschaos treffen wir einige Freunde: Caddies, Cousins, Brüder. „Alle Caddies leben hier“, sagt Anil. Sein ganzes Leben hat er an dieser Straße verbracht. „Ich bin ein glücklicher Mann.“
Am nächsten Tag sind wir im 100 Jahre alten Delhi Golf Club, dem Augusta National von Indien mit einer 25-jährigen Warteliste für neue Mitglieder. Das
6. Grün ist keine 1.000 Meter von Indiens Epizentrum, dem India Gate, entfernt. Der Platz, auf dem gerade die Indian Open ausgetragen werden, liegt auf einem uralten Friedhof.
Ich treffe mich mit dem 64-jährigen Major General Abhi Parmar, einem pensionierten Kriegsveteran, der die Indian Golf Union leitet. „Golf hat in Indien eine großartige Zukunft vor sich“, sagt er. „In den nächsten drei Jahren werden 20 neue Plätze gebaut. Golf ist für eine wohlhabendere Mittelschicht erschwinglicher geworden. Und: Eltern interessieren sich für Golf!“
Die Kolonialzeit holte Golf nach Indien
Die britischen Kolonialherren waren Schuld, dass Golf überhaupt nach Indien kam. Der älteste Golfclub außerhalb von Großbritannien ist der Royal Calcutta von 1829. Doch von einem Massensport wie Cricket ist Golf weit entfernt. Auch wenn die Wirtschaft jedes Jahr um acht Prozent wächst, spielen von den 1,2 Millarden Indern gerade einmal 150.000 Golf, davon knapp 5.000 Frauen. Offiziell jedenfalls – wahrscheinlich sind es weniger.
Ein Boom, wie beispielsweise in Korea, wo derzeit 38 Profigolferinnen unter den Top 100 der Damen-Weltrangliste stehen, ist nicht zu erwarten. Die beste Inderin ist Sharmila Nicollet (Rang 598), der beste Inder Jeev Milkha Singh (192).
Exklusivität auf höchstem Niveau
Das Hauptproblem sind nicht die fehlenden Stars, sondern die Zugangsbeschränkungen. „Golf ist noch lange kein Jedermann-Sport“, bestätigt auch der General. In einem Land voller Armut, in dem noch ein Viertel der Bevölkerung Analphabeten ist, gehört Golf zu den unwichtigsten Dingen.
Soll irgendwo ein neuer Golfplatz gebaut werden, wird protestiert. „Du musst die Leute anhören“, sagt Parmar. „Du kannst niemandem die Lebensgrundlage wegnehmen, nur weil du irgendwo Golf spielen möchtest. Unsere Demokratie respektiert alle Menschen.“
In ganz Indien gibt es nur einen öffentlichen Golfplatz: Qutab GC in Delhi. Tagesgreenfee: fünf Euro. Alle anderen Anlagen sind strikt privat. Spielen ist nur mit Handicapnachweis und in Begleitung eines Mitglieds erlaubt. Doch wer nicht spielen kann, bekommt auch kein Handicap. Während unserer Runde mit Anil am Freitagnachmittag war der Platz fast leer. Die Mauer, die den Golfplatz vom Slum, in dem Anil lebt, so klar trennt, ist ein Symbol. Willst du heute in Indien eine Wohnung mieten, für eine Firma arbeiten oder gar Golf spielen und du gehörst der falschen Gesellschaftsschicht (Kaste) an, dann rennst du gegen eine unüberwindbare Mauer.