GOLF MAGAZIN: Du liebst neben dem Golf auch Disziplinen wie das Angeln, in denen man sehr geduldig sein muss …
Marcel Siem: Beim Golf ja auch. Ich angele tatsächlich unglaublich gern, könnte zehn Stunden am See sitzen. Ich weiß, das glaubt mir keiner. Und ich liebe Tischtennis.
Dann bist Du gar nicht so ungeduldig?
Auf dem Golfplatz schon. Ich bin sehr sensibel. Probleme möchte ich sofort lösen. Wenn ich Streit habe, egal, ob in der Familie oder mit Freunden, schlafe ich schlecht. Der Fall muss geklärt werden. Genauso ist es auf dem Platz. Habe ich ein Bogey gespielt, möchte ich sofort das Birdie nachlegen. Dabei benötigt man gerade auf der Runde sehr viel Geduld. Aber es ist besser geworden.
Schon als junger Nationalkaderspieler bist Du angeeckt und auch mal rausgeflogen, weil Du feiern warst …
Ich bin drei Mal rausgeflogen.
Warum bist Du so oft rausgeflogen? Weil Du unangepasst warst?
Ja, das kann man schon sagen. Leute, die mich wirklich kennenlernen, mögen mich eigentlich. Ich habe noch nie gehört, dass jemand, der es tatsächlich beurteilen kann, mich als arrogant bezeichnen würde. Die hingegen, die mich eben nicht kennen, vor allem im Social-Media-Bereich, schreiben zum Beispiel: „Dieser arrogante Siem. Bla, bla, bla“. Ich verstehe das nicht. Wenn du eine Person der Öffentlichkeit bist, dann quatschen die Leute einfach … In Deutschland ist es aber schon etwas besser geworden, auch durch die Arbeit der PGA of Germany. Heutzutage können die Spieler sich eher frei entfalten. Früher war das nicht möglich. In der Nationalmannschaft hatten wir damals kaum eine Chance, eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Da gab es nur den einen, vorgegebenen Weg. Tja, und wenn ich in die Ecke getrieben werde, gehen die Emotionen halt los.
Früher versuchten die Trainer also mehr, ihre Schüler zu formen?
Pädagogisch war das damals schon schlecht. Die konnten mit Jugendlichen nicht umgehen. Dabei ist es sehr wichtig, dass man
mal hinter die Kulissen schaut und Fragen stellt wie: „Was hat der Junge? Was ist da Zuhause los? Wie ist er mental unterwegs?“ Man kann nicht einfach eine Schiene wählen und da jemanden hineinpressen. Dagegen habe ich mich gewehrt, indem ich beispielsweise an einer Bahn lieber einen Driver anstatt eines Eisen 3 schlagen wollte. Dann gab’s eben Stress. Aber wenn der Trainer selber nicht einmal unter 90 spielen kann, dann will ich dem auch nicht zuhören. Tja, und dann fliegt man aus dem Kader, weil man abends zwei Gin Tonic trinkt … Nach meinem Sieg beim Sherry Cup aber mussten die mich für die WM 2000 wieder ins Team holen. Vielleicht war es damals etwas zu früh, aber da habe ich gesagt: „Nö, dann werde ich lieber Profi“.
Seit März dieses Jahres trainierst Du mit André Kruse?
Ja, der war auch einer der wilderen Kandidaten aus der Nationalmannschaft. Er gibt auf einer öffentlichen Anlage Unterricht. Ich mag es, da zu trainieren. Das ist etwas „back to the roots“; mit Matte und TrackMan. Andrés positive Art hat mich überzeugt. Die letzten zwei Jahre haben ja schon weh getan, mit den Backpfeifen, die ich kassiert habe. Sich selbst aus so einem Loch zu ziehen ist schwer. André ist eben ein echt toller Typ. Wenn jemand unseren WhatsApp-Verlauf sehen würde, könnte man denken, wir wären ein Paar (lacht), so viele Herzchen, Küsschen und Fist-Pumps, die wir uns schicken … Das Kurze Spiel trainiere ich Zuhause auf meinem Huxley-Grün oder eben auf dem Grün in der Auermühle (Anmerkung der Redaktion: Die Firma Marcel Siem Golf Experience von Marcel und seiner Frau hat ein Demo-Grün von Huxley in Ratingen*.)
Zwei Deiner fünf Profisiege hast Du im Playoff gewonnen. Musst Du erst in eine Ecke getrieben werden, um zu glänzen?
Es scheint leider so. Aber ich versuche, einen anderen Weg zu gehen. Ich zocke halt auch, spiele super gerne Poker. Casino war auch so eine Sache, die ich immer ganz cool fand; davon aber habe ich mich distanziert. Als Vater hat man ja mehr Verantwortung und kann nicht immer machen, was man möchte. Aber dieser Druck – ich habe noch nie im Stechen verloren – ist halt mega geil. Den liebe ich. Da gehe ich richtig ab. Egal, ob das jetzt mit Bernhard war beim World Cup, bei meinem ersten Sieg 2004 auf der Tour oder zuletzt in China. Das sind Momente, für die ich lebe. Noch immer. Wenn ich alles optimal hinbekomme, dann kann ich noch mal richtig, richtig nach vorne kommen.
Du erwähntest Deine Rolle als Vorbild und Vater. Für Deine Töchter bist Du bestimmt der coolste Papa der Welt?
Das hoffe ich doch. Also ich bekomme so viele Küsschen, Umarmungen und Kuscheleinheiten und glaube nicht, ein schlechter Vater zu sein – auch wenn ich oft nicht da bin. Bernhard hat mir mal eine ganz gute Lektion erteilt. Er meinte: „Du musst nicht religiös sein, du musst nicht in die Kirche gehen, du musst einfach nur gewisse Eigenschaften haben: Du musst ein guter Vater sein, ein guter Ehemann, ein guter Freund – und du musst gut zu dir selber sein. Wie du es machst, ist total wurscht, dafür gibt es tausend Wege“. Diese Gedanken bewegen mich. Mir sitzt quasi ein Männchen auf meiner Schulter, das mich manchmal zurückpfeift. Ich versuche, das Richtige zu machen. Aber ich lebe nur einmal und möchte auch meinen Spaß haben.
Lassen sich Spaß und der fitnessorientierte Lebensstil eines Profis miteinander vereinbaren?
Ich bin auf die Tour gekommen, als es gefühlt weder einen gesunden Lebensstil noch Fitness-Programme gab. Die meisten Profis saßen an der Bar, haben Kippen oder Zigarren geraucht und getrunken. Das hat sich komplett gewandelt. Zu den meisten jüngeren Spielern habe ich keinen Kontakt. Die haben Kopfhörer im Ohr, gehen ins Gym, ernähren sich über den Roomservice und trainieren viel. Die Veränderung auf der Tour ist schon heftig. Wenn man sich Brooks Koepka anguckt, was er für eine Maschine ist. Der Typ könnte Mike Tyson umhauen …
Hört sich einsam an …
Für mich ist das tatsächlich schwer geworden. Deswegen habe ich Yusuf (Anmerkung der Redaktion: Yusuf Kanar ist Marcels Caddie) wieder an die Tasche geholt. Mit ihm habe ich meinen Best-Buddy dabei und kann auf der Tour ein soziales Leben führen. Meine Kumpels Nicolas Colsaerts, Raphaël Jacquelin und Grégory Havret haben ebenfalls Kinder und spielen nicht mehr so viel; wenn doch, reisen sie mit der Familie. Da ist der Kontakt schon weniger geworden, und das nervt ein bisschen. Aber so ist halt unser Job.
Was sind Deine Ziele? Hast Du so etwas wie einen Fünfjahresplan?
Fünfjahresplan kann ich nicht. Einjahresplan ist es bei mir. Step by step. Ein Ziel, von dem ich nicht lassen kann, ist, die BMW International Open in Eichenried zu gewinnen. Das war immer mein Ziel und bleibt es auch. Ich kann verstehen, wenn die Leute sagen: „Der Siem spinnt ja, der soll erst mal seine Tourkarte zurückholen“. Leute, sagt das ruhig. Das ist mir total egal. Natürlich will ich mir mit einem Sieg auch die Karte holen, damit ich für das nächste Jahr planen kann, etwas mehr Ruhe habe und vielleicht auch die Sponsoren wiederkommen.
Vielen Dank für das Interview, Marcel, und viel Glück bei Deinen nächsten Turnierstarts.
* Weitere Infos: marcelsiemhuxleygolf.de