Hier und jetzt führt sie dazu, dass Christians Ball aus 172 Metern wunderbar Richtung Fahne segelt, um gerade mal vier Meter davon entfernt liegen zu bleiben. Zum Glück hatte Neureuther vor unserer Runde und entgegen meines Angebots, von denselben Tees zu spielen, darauf bestanden, dass ich die Damenabschläge nutze. Seine Einschätzung: „Du wirst mich sowieso schlagen. Das muss dann nicht auch noch vom selben Abschlag sein; dafür bin ich zu ehrgeizig.“
Der Ehrgeiz zieht sich, was nicht wirklich überrascht, durch die gesamte Familie Mittermaier-Neureuther. Die Erfolge sprechen hier ihre ganz eigene Sprache. Rosa Katharina Mittermaier, den meisten eher unter dem Spitznamen „Gold-Rosi“ bekannt, holte bei den Olympischen Winterspielen 1976 in Innsbruck zweimal Gold (Abfahrt und Slalom), verpasste das dritte im Riesenslalom nur um zwölf Hundertstel-Sekunden. Sohn Felix Neureuther kommt inzwischen auch schon auf 13 Weltcup-Siege und fünf Medaillen (Gold, Silber und dreimal Bronze) bei vier verschiedenen Ski-Weltmeisterschaften. Wenn ihn nicht weitere Verletzungen stoppen, könnten bei dem 34-Jährigen noch ein paar Siege dazukommen. Amelie Neureuther ist eine bekannte Künstlerin und Designerin, die als Einzige der Familie dem Skifahren den Rücken gekehrt. „Und das, obwohl sie in ihrer Jugend sogar besser war als der Felix“, lacht Vater Christian. Was aber fasziniert einen Geschwindigkeitsjunkie, der sich Hänge mit einer Neigung von bis zu 45 Grad und im Schnitt etwa 40 Kilometern pro Stunde durch Tore im Abstand von nur neun Metern gestürzt hat, am Spiel mit dem kleinen weißen Ball? Neureuther: „Golf ist eine großartige Sportart! Ich war schon beim allerersten Mal begeistert. Golf ist mental extrem fordernd, weil man immer auf den Punkt konzentriert sein muss. Im Grunde gibt es nicht so viele Unterschiede zwischen Golf und Slalom. Wer den gelernten komplexen Bewegungsablauf nicht innerhalb eines Bruchteils einer Sekunde abrufen kann, hat bei beiden keine Chance.“
Mittlerweile sind wir auf der neunten Bahn angekommen. Der Abschlag führt direkt auf eine massive Felswand im Hintergrund zu; das ist ein so schönes Bild, dass ich diesen Abschlag am liebsten noch zehn Mal wiederholen würde. Christian aber reißt mich aus meinen Träumen, ist gedanklich schon woanders. Für ihn ist Golf alles andere als ein Altherrensport, auch wenn er „nicht so belastungsintensiv ist wie das Skifahren. Trotzdem sollte man natürlich fit sein.“ Durch die Arthrose im Knie und die damit verbundenen Schmerzen ist der Kampf um die körperliche Fitness ein Faktor im Leben des Athleten Neureuther, der für ihn viel zu früh eingetreten ist: „Ich fühle mich noch nicht wirklich bereit, solch ein Hilfsmittel nutzen zu müssen. Dazu bin ich noch nicht alt genug.“
Keine Einschränkungen
Die Rede ist von seiner eigens für ihn angefertigten Orthese von Ottobock. Das ist ein Familienunternehmen, das bekannt für sein herausragendes Engagement und seine Pionierarbeit im Behindertensport und vor allem bei den Paralympischen Spielen ist. Das besondere an Neureuthers Agilium Freestep 2.0 ist, dass das Fußteil der Orthese im Gegensatz zu Produkten anderer Hersteller in den Schuh passt und gleichzeitig das Knie nicht durch eine starre Konstruktion blockiert wird. Christian Neureuther: „Die Orthese stützt mein Knie wirkungsvoll, ohne dass ich mich im Geringsten eingeschränkt fühlen würde.“ Garmisch-Partenkirchen ist nicht nur die Geburtsstadt von Christian Neureu-ther, hier lebt der 69-Jährige noch immer mit seiner Familie. Im Vorfeld unseres Treffens hatte ich mir überlegt, ob es ein Fluch oder ein Segen sei, so lange trotz oder vielleicht wegen der Erfolge in dem heilklimatischen Kurort geblieben zu sein.
Tatsächlich, so erlebe ich es, ist es für die meisten Bewohner nichts Besonderes, die ehemaligen Ski-Helden zu sehen oder zu treffen. Auch wenn es nicht zu häufig vorkommt, sagt Christian: „Eigentlich sind wir nie in der Stadt. Ich mag diese Aufmerksamkeit nicht. Ich möchte nicht, dass jeder Schritt von mir bewertet wird oder ich aufgrund meiner Erfolge oder meines Namens anders behandelt werde. Ich bin ganz normal, wie alle anderen. So möchte ich auch behandelt werden.“ Ganz normal, diesen Eindruck kann ich von der ersten Minute unseres Treffens teilen. Es gibt keine Starallüren, keine abgewehrten Fragen. Im Gegenteil. Neureuther spricht offen über seine Karriere, seine Verletzungen und vor allem den Rest seiner Familie. „Soll ich den Felix
’mal anrufen und fragen, ob er vorbeikommen mag?“ Nicht einmal zehn Minuten später steht der berühmte Sohn vor mir. Zwar möchte er nicht vor unsere Kameras, was ich verstehen kann. Außerdem kann er als Folge seiner Kreuzband-Operation ohnehin noch nicht wieder richtig Golf spielen. Dafür aber lässt es sich Felix nicht nehmen, mit seinem Neffen Oskar dem Opa beim Üben zuzuschauen.
Der gibt dann auch augenzwinkernd zu, schon „ein bisschen eitel“ zu sein. Deshalb bevorzugt er es, in langen Hosen auf die Runden zu gehen. Und das nicht, weil er den Tour-Pros nacheifern möchte, bei deren Turnieren Shorts verboten sind. Sondern weil er nicht möchte, dass man seine Orthese sieht. „Ich kenne hier wirklich viele Leute, und ich bin nicht bereit, mir einzugestehen, dass ich so ein Hilfsmittel benötige – und man mich dann auch noch so sieht. Das Schöne an der Orthese ist doch, dass man sie so gut verstecken kann“, lacht Neureuther. Für ein paar Bilder auf der Driving Range ist er allerdings bereit, sich eine kurze Hose anzuziehen und zu zeigen, wie einfach es ist, die Agilium Freestep 2.0 anzulegen. Für Ottobock hat sich Christian Neureuther vor Jahren aus Überzeugung entschieden. Schon lange war er damals auf der Suche nach schmerzlindernden Maßnahmen, weil er eine Operation des geschädigten Knies so lange wie möglich herauszögern wollte. Schließlich stieß er auf das Unternehmen, dessen Mitarbeiter ihm auf Anhieb sympathisch waren. Geholfen hat auch, dass Ottobock schon seit Jahren Prothesen, Orthesen und andere Hilfsmittel für viele paralympische Athleten entwickelt und produziert.
Ehrgeiz verliert man nicht
„Eine Runde mit Christian Neureuther“ war der Arbeits-Titel meines Termins. Vorangegangen waren wie immer viele E-Mails. Möchten Sie 18 Löcher mit Herrn Neureuther spielen oder reichen auch 9 Löcher? Brauchen Sie im Anschluss noch ein wenig Zeit mit ihm und wenn ja, wie viel? Es folgten interne Rücksprachen mit Herrn Neureuther. Am Ende gab es keine genauen Angaben zur verfügbaren Zeit über die gemeinsame Runde hinaus.
„Wir haben einen Tisch reserviert auf Neureuther“, sage ich zu dem Kellner eines italienischen Restaurants in Garmisch-Partenkirchen. Zwischen diesem Satz und den besagten E-Mails ist viel Zeit vergangen. Jetzt sitze ich mit Rosi und Christian beim Wein. Die Reservierung war Christians Idee, und Rosi ist spontan dazugestoßen. Die Gespräche führen uns durch die hochinteressante Vergangenheit der beiden, aber auch zu den Problemen von Eltern und deren Kindern, die, sagen wir es mal vorsichtig, sehr bekannt sind. Der nicht ganz so normale Wahnsinn eben. Aus meiner Runde wurde ein Tag mit Christian Neureuther und seiner Familie.Genau diese offene und autentische Art machte dieses Erlebnis für mich zu etwas ganz Besonderem mit vielen Einblicken in das Leben einer berühmten, bodenständigen Familie. Übrigens: Die eingangs erwähnte Nearest-to-the-Pin-Wertung ging zu meiner Erleichterung an mich. Da kann ich mich Christian nur anschließen: „Den Ehrgeiz, seine Sportart so gut wie möglich ausüben zu wollen, kann man nicht ablegen. Man gibt immer Vollgas.“