Die Bilder, die Steve Williams vor der Golftasche von Tiger Woods unter der Veranda des Clubhauses von Augusta National zeigen, während sein Chef sich oben im ersten Stock im Locker Room der Champions umzieht, scheinen aus einem anderen Zeitalter zu stammen. Bis in das Jahr 2010 folgte bei dem 14-maligen Majorsieger und seinem Gefolge alles strengen Gesetzmäßigkeiten.
Ob Manager Mark Steinberg, Williams oder die Trainer Butch Harmon, Hank Haney oder Sean Foley (bis 2014), jeder wusste genau um seine Aufgabe und vor allem: Jeder erkannte die Hierarchie im Team an. Wer sich nicht an die Vorgaben hielt, wurde gefeuert. Auch wer zu redselig war, erhielt die fristlose Kündigung.
Außer Steinberg gehört heute niemand mehr zum Team, Tigers persönliches Universum ist vollends durcheinander geraten. Nach der Trennung von Skirennläuferin Lindsay Vonn vor zwei Jahren ist nicht einmal bekannt, ob es eine Frau an der Seite des 41-Jährigen gibt. Sein ehemaliger Nachbar Stuart Appleby fragte kürzlich in „Sports Illustrated“: „Ist Tiger einsam?“
Allein jedenfalls wurde Woods Anfang Juni von der Polizei nachts um drei Uhr auf dem Highway in seinem parkenden und beschädigten Wagen nahe seines Wohnortes Jupiter in Florida angetroffen. Die Ordnungshüter nahmen den berühmtesten Bürger der Insel fest, nachdem Woods lallend wie ein Betrunkener das ABC aufsagte und hilflos schwankend einer Linie auf der Straße zu folgen versuchte. Und das über mehrere Minuten, wie alle Welt dem online gestellten Polizeivideo entnehmen konnte.
Alkohol war es nachweislich nicht, der diesen Zustand ausgelöst hatte. Tiger sprach später von einem Medikamentencocktail, dessen Wirkung er unterschätzt habe. Woods war im April zum vierten Mal an der Wirbelsäule operiert worden.
Eine gefährliche Mischung
Inzwischen ist wohl auch klar, was sich Woods da eingeworfen hatte: Xanax, ein Beruhigungsmittel, das in den USA gegen Angst- und Panikstörungen verschrieben wird, sowie Vicodin, ein starkes Schmerzmittel. Tatsächlich hat Tiger (und alle anderen Autofahrer auf dem Highway) großes Glück gehabt, dass er seinen Mercedes noch irgendwie am Straßenrand zum Halten gebracht hat, bevor er kollabierte.
Einst gefeiert, als Golfer gefallen und nun verhöhnt? Woods hatte erst vor kurzem angekündigt, wieder „professionell Golf spielen“ zu wollen. Den Zeitpunkt nannte er allerdings nicht. Konkreter war da schon das Vorhaben, unter dem Namen „Tiger Woods Design“ noch intensiver in den Bau neuer Golfanlagen einzusteigen. Auch ein Restaurant betreibt Woods in der Nähe seines Wohnortes. Nur sein ureigenes „Produkt“, Golf zu spielen, kann Woods nicht mehr auf dem Level anbieten, das seine Fans – und er selbst – erwarten.
„Ich denke, es ist vorbei mit Tiger“ – Tourpro Pat Perez
Bei seinem vorerst letzten Start im Februar in Dubai gab er nach der ersten Runde wegen Rückenbeschwerden auf. Allerdings war seine Tages-Leistung so desaströs, dass die Frage auftauchte, ob Woods seine gesundheitlichen Probleme nur als Alibi nutze, um seine schlechten Leistungen zu kaschieren? Kollegen, die Woods nicht mögen, wie Pat Perez, bezichtigen ihn offen, nur noch zum Schein zum Schläger zu greifen, um seine Werbe-verträge zu erfüllen. Nach dem Vorfall auf Jupiter Island ist es nun offensichtlich, dass der einstige Superstar der Branche sein Leben gar nicht mehr im Griff hat.
Besonders betroffen und niedergeschlagen wird Woods selbst über den Vorfall sein, weil über die Medien auch seine beiden Kinder den Absturz ihres Vaters verfolgt haben. Dazu kommt, dass sich in solchen Momenten Neider und Kritiker berufen fühlen, zum Rundumschlag auszuholen. Woods hatte während seiner Karriere nicht nur Anhänger, sondern stets auch wortgewaltige Kritiker. Zu sehr polarisierte er durch sein Verhalten auf und abseits des Platzes.
Seine Erfolge hatten immer auch etwas Radikales und Kompromissloses. Die geballte Faust, sein rotes Poloshirt, das er immer in der letzten Runde eines Turniers trug, das Verlangen, Dominanz auszustrahlen sowie die Kraft und Dynamik, mit der er auf den Ball einschlug, schüchterten seine Konkurrenten über Jahre ein. Dazu kommt, dass Woods sich stets abschottete, auch gegenüber den Medien. Einzelinterviews blieben eine Ausnahme.
Dan Jenkins, Redakteur unserer Schwesterzeitschrift Golf Digest, reagierte darauf auf sehr spezielle Weise. Jenkins hat mit allen großen Golfern Interviews geführt, nur mit Woods nicht. Also führte er ein fiktives Gespräch, bei dem alle für Woods unangenehmen Fragen aufgeworfen wurden – und von „Woods“ auch beantwortet. Ganz gegen seine Gewohnheit reagierte der echte Woods auf dieses „Interview“ und empörte sich darüber offen. Im Internet ist eine Liste zu finden, in der die übelsten Angriffe auf Woods dokumentiert werden. Angeführt wird sie von Perez, der keinen Hehl aus seiner Abneigung gegen Tiger Woods macht. Im Radio sagte der zweimalige Tour-Sieger: „Tiger kann kein Turnier mehr gewinnen, und er weiß das. Ich denke, es ist vorbei mit ihm. Ich glaube nicht, dass wir ihn noch einmal sehen werden.“
Martin Kaymer: „Ohne ihn wären wir nicht da, wo wir heute sind“
Zu den wenigen, die Woods zur Seite sprangen, gehörte Martin Kaymer. Der Deutsche würdigte in seinem online gestellten Video die Rolle des Amerikaners, der Golf auf ein anderes Level gehoben habe, wovon die gesamte Branche eindeutig profitiert habe. Kaymer hält es für unwürdig, auf Woods nun einzuschlagen. „Warum behandelt man ihn so unfair? Er liegt auf dem Boden, und man tritt noch auf ihn. Warum macht ihr nicht das Gegenteil und helft ihm jetzt?“ Kaymer hebt auch die integrative Rolle von Woods hervor: „Er hat Kinder und Afro-Amerikaner inspiriert, und er hat Menschen zusammengebracht. Ohne ihn wären wir alle nicht da, wo wir heute sind. Ich kann nur hoffen, ihn irgendwann wieder einmal auf dem Golfplatz zu sehen. Das ist mein einziger Wunsch.“
Dass Woods in seinen vielen extrem guten Jahren eine Vorreiterrolle für eine neue Generation von superfitten Golfathleten übernommen hat, ist unbestritten; das aber hilft ihm selbst heute überhaupt nicht. Dass er seine Karriere als Spieler auf einem angemessenen Niveau fortsetzen kann, daran glaubt wohl niemand mehr. Woods, der die Golfwelt 683 Wochen lang als Nummer eins dominiert hatte, wohl auch nicht, wenn er sagt, dass es „nie wieder großartig“ wird. Und, noch schlimmer für einen Fitness-Freak wie ihn: „Ich werde immer Schmerzen haben!“
Beispiele anderer aus dem Tritt geratener und ehemals richtig guter Profigolfer zeigen, dass ein Comeback offenbar noch schwerer ist als der Karrierestart. David Duval, einst Gegenspieler von Woods, kurzzeitig sogar Weltranglistenerster und British Open-Sieger, hat sich damit abgefunden, dass es keinen Weg mehr zurück gibt zu alter spielerischer Stärke.Doch gerade Duval (45), der seine Augen auf dem Platz immer hinter einer dunklen Sonnenbrille verbarg, zeigt seinem einstigen Partner, mit dem er gemeinsam den World Cup gewann, dass es auch ein Leben nach dem Turniergolf geben kann. Auch ein anderer früherer Superstar, der Engländer Nick Faldo, ist mit seiner neuen Rolle glücklich geworden: Während Duval noch am Anfang einer Fernsehkarriere als Experte steht, ist Faldo als Kommentator der PGA Tour nahezu unersetzlich geworden. Die US-Zuschauer lieben ihn und seinen englischen Dialekt, und so könnte es eines Tages auch bei Tiger sein – vom Dialekt abgesehen. Als Kommentator könnte er sein Wissen einbringen, er könnte authentisch wie kein anderer darüber sprechen, wie schwer es ist, ein Leben vor einer Kulisse zu führen, die allgegenwärtig ist.
Das setzt allerdings voraus, dass er eine neue Rolle akzeptiert und vor allem von Vorstellungen Abschied nimmt, die ihm sein Vater Earl stets eingetrichtert hatte: Tiger, so der Vater, sei immer allein auf sich gestellt und müsse den Kampf gegen alle allein annehmen. Unrealisierbar wird auch der Traum sein, den er seit seiner Kindheit geträumt hat: Die 18 Major-Siege von Jack Nicklaus nicht nur zu erreichen, sondern diese historische Marke zu knacken. Tiger war auf dem besten Weg, hatte 2008, mit gerade 32 Jahren, schon 14 Majorsiege zusammen. Danach aber setzte er sein Auto gegen einen Hydranten und die Ehe mit Gattin Elin in den Sand, die von Tigers zahllosen Affären erfahren hatte. Schon damals hatte Woods ganz viel von seinem Glanz verloren; ein Major kam nicht mehr dazu, so dass Nicklaus’ Rekord inzwischen außer Gefahr ist.
Im Gegensatz zu Woods hat Jack ein Leben ohne Skandale geführt, ist mit Barbara seit über 50 Jahren verheiratet. Woods muss auch einen Satz umkehren, den er erst im Dezember gesagt hat und sein ganzes Dilemma in wenigen Worten zusammenfasste: „Es gibt nichts, auf das ich hinarbeiten kann.“ Jetzt, nach der Festnahme und dem Bekanntwerden seiner offensichtlichen Medikamenten-Abhängigkeit, hat er etwas. Tiger hat erfolgreich eine Therapie abgeschlossen und nun geht es um das bisher gemeinsame Sorgerecht für seine Kinder (8 und 10 Jahre alt), um das er kämpfen will. Das ist allemal wichtiger als der nächste Major-Titel. Gerade jetzt.